Interview mit Prof. Dr.-Ing. Sylvia Heilmann

Das präventive Schutzsystem muss greifen

Der fatale Brand am 14. Juni 2017 im sanierten Grenfell Tower in London ist eine große Katastrophe. Als Brandherd wurde ein Kühlmöbel ausgemacht, also ein technischer Defekt an einem Haushaltsgerät, wie er nicht auszuschließen ist. Die schnelle Ausbreitung des Feuers zu nachtschlafender Zeit wurde dem brennbaren Fassadenmaterial zugeschrieben. Bewohner in 24 Geschossen zu alarmieren und zu evakuieren, ist – insbesondere bei der schnellen Brandausbreitung – eine wahre Herkulesaufgabe. Zudem wird gemutmaßt, dass es schon im Vorfeld des Brandes Beschwerden und Meldungen zum vermeintlich mangelhaften Brandschutz gegeben hat. BS BRANDSCHUTZ-Redakteurin Stefanie Schnippenkötter bat Prof. Dr.-Ing. Sylvia Heilmann (Prüfingenieurin für Brandschutz, www.ibheilmann.de) zum Interview. Dabei ging es nicht etwa darum, den „erhobenen Zeigefinger“ zu zücken. Vielmehr soll in den Fokus rücken, welche Regelungen in Deutschland – bei fachgerechter Errichtung, Inbetriebnahme und Instandhaltung eines Gebäudes – greifen und wie es um den Brandschutz in Hochhäusern in Deutschland bestellt ist.

BS Brandschutz: Frau Prof. Dr.-Ing. Heilmann, der technische Defekt eines alltäglichen Haushaltsgerätes hat laut Medienberichten den Brand vom 14. Juni 2017 ausgelöst. Zunächst einmal eine Situation, wie sie überall vorkommen kann. Wie gestaltet sich die Kette in einer solchen Situation, um die unkontrollierte Ausbreitung eines Wohnungsbrandes einzudämmen oder zu verhindern?

Sylvia Heilmann: Das stimmt, es war ein normales Brandszenario. Bei einem Brandschutzkonzept geht der Experte zunächst davon aus, dass ein Brand in einem Geschoss und dort nur in einer Mieteinheit entsteht. Diese Annahme entspricht der Lebensrealität. Die Sicherheitskaskade sieht nun vor, dass der Brand für eine definierte Zeit genau auf diese Mieteinheit begrenzt bleibt. Das kann nur durch feuer- widerstandsfähige Bauteile und Baustoffe erfolgen, weil die Feuerwehr zur Brandbekämpfung ja noch nicht vor Ort ist. Sie wird erst nach der Brandentdeckung gerufen und muss sich sammeln, zum Geschehen hinfahren und vor Ort einrichten. Das dauert zwar nur wenige Minuten (in Deutschland 12 bis 15), aber in dieser Zeit entwickelt sich der Brand weiter und darf nicht auf andere Bereiche übertreten. Er soll möglichst in der Mieteinheit bleiben. Wenn dann die Feuerwehr zum Einsatz bereit ist, kann sie durch die aktive Brandbekämpfung die weitere Ausbreitung verhindern. Es geht also nur zusammen: kraftvolle Baustoffe/Bauteile und kraftvolle Feuerwehrleute.

BS Brandschutz: Das Feuer in London hat sich extrem schnell ausgebreitet, noch dazu bei Nacht in einem Wohnhochhaus. Welche Maßnahmen werden in Deutschland speziell bei Hochhäusern im Brandschutz eingesetzt?

Sylvia Heilmann: Im vorbeugenden Brandschutz gelten drei Grundprinzipien: Abstand – Aufmerksamkeit – Abschottung Die „drei großen A“, wie ich sie immer nenne. Sie gelten seit Jahrhunderten. Nachdem irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts klar war, dass die menschlichen Kräfte der Feuerwehren, auch mit noch so viel Technik, nicht ausreichen, um die rasante Ausbreitung der Brände zu verhindern, wurde dem Einsatz nicht brennbarer Materialien und feuerwiderstandsfähiger Bauteile mehr Raum gegeben. Die Bauordnungen verlangten fortan vom Bauherrn, dass beim Hausbau besondere Qualitäten zum Einsatz kommen, was natürlich (freiwillig) nur geschah, wenn das auch kontrolliert wurde. Ab und an wurde der Einsatz nicht brennbarer Materialien sogar gefördert, steuerlich oder mit direkten Zuschüssen. Jedenfalls ist der Einbau von brennbaren Dämmstoffen in Hochhäusern seit 1981 in Deutschland verboten und jede Wohnung muss ringsum 90 Minuten dem Feuer Gegenwehr bieten. Ganz einfach, wenn das auch so gebaut wird. In einem Hochhaus muss zusätzlich das besondere Risiko „der großen Höhe“ (und damit auch der langen Wege) beachtet werden. Das heißt, weitergehende Maßnahmen müssen dieses Risiko absenken (z.B. durch einen Sicherheitstreppenraum, Brandmeldetechnik, Sprinklertechnik usw.).

BS Brandschutz: Können Sie an dieser Stelle näher erläutern, was bedeutet eigentlich „nicht brennbar“?

Sylvia Heilmann: Kurz und umgangssprachlich: Nicht brennbare Baustoffe brennen nicht! Technisch ausgedrückt bedeutet es nach deutscher Baustoffprüfung (DIN 4102- 1): keine Entflammung, kein Glimmen und im Prüfofen keine Temperaturerhöhung um mehr als 50 °C über den Ausgangswert.

BS Brandschutz: Im Brandschutz geht man von typischen Brandszenarien aus, was solch einen Hochhausbrand wie in London ausschließt. Können leichte Abweichungen nicht bereits Auswirkungen auf die Brandszenarien haben? Wie zuverlässig sind diese theoretischen Modelle?

Sylvia Heilmann: Eigentlich sehr zuverlässig, wenn alle Regeln eingehalten sind! Nur das Leben zeigt uns eben auch, dass nicht immer, und vor allem nicht bei solchen Katastrophen, alle Regeln eingehalten wurden. Der Brand kann durch den Löscheinsatz der Feuerwehr kontrolliert und ein Übergreifen auf darüber befindliche Bereiche verhindert werden. Aber nur dann, wenn die Einheit gegen die benachbarte Einheit durch geschlossene und feuerwiderstandsfähige Bauteile (Wände, Decken, Leitungen, Türen) abgetrennt ist, was in Deutschland vorgeschrieben ist. Wird dieses Grundkonzept „Abschottung“ verlassen, ist die Brandausbreitung nicht zu verhindern! Der Bauausführung kommt also große Bedeutung zu. Ist die schlecht, hat die Feuerwehr (ungewollt) schlechte Karten. Deshalb ist die Kontrolle der Bauausführung so wichtig! Ohne die Kontrolle nützen die besten Gesetze nix.

BS Brandschutz: Der Grenfell Tower, ein Gebäude aus den 1970er Jahren, wurde saniert. Auch hierzulande werden Gebäude (energetisch) saniert. Welche Wärmedämmmaterialien gelten eigentlich als „nicht brennbar“? Und was spricht überhaupt dafür, brennbare Wärmedämmung einzubauen?

Sylvia Heilmann: Zunächst gelten Mineralwolle (Stein- oder Glaswolle) oder Schaumglas (Foamglas) als nicht brennbare Dämmstoffe. Gegenüber den brennbaren Dämmstoffen, wie z.B. Polystyrol, sind die Mineralwollen etwa doppelt so teuer, bei Foamglas sogar viermal so teuer. Damit wird sicher klar, warum brennbare Dämmung häufig bevorzugt wird. Hier kann wieder nur der Gesetzgeber eingreifen, indem er vorschreibt, was erlaubt ist und was nicht! Wenn er nicht eingreift, so zeigt uns das Leben, nimmt man das billigere, aber auch gefährlichere Material.

BS Brandschutz: Wie schätzen Sie den Status quo in Deutschland ein? Wie sicher sind Hochhäuser aus den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland? Gibt es hier eine Pflicht zur Nachrüstung oder einen Bestandsschutz?

Sylvia Heilmann: Das ist schwer zu sagen. Die Hochhausrichtlinie von 1981 erlaubte in ihrem Punkt 3.4.2 keine brennbaren Dämmstoffe. Die Hochhäuser, die vorher errichtet wurden und noch nicht saniert sind, müssen daher überprüft werden. In Wuppertal ist das verantwortungsbewusst erfolgt. Eine Pflicht zur Nachrüstung gibt es dann, wenn eine konkrete Gefahr besteht. Diese konkrete Gefahr muss im Einzelfall nachgewiesen werden. Nach dem Londoner Brandereignis im Grenfell Tower muss eine Nachrüstung besonders sorgfältig abgewogen werden.

BS Brandschutz: Es gibt zahlreiche technische Lösungen, Branddetektion und -alarmierungssysteme, Sprinkleranlagen, Brandmeldezentralen, Möglichkeiten der Sauerstoffreduktion in sensiblen technischen Bereichen oder Rauchabzugssysteme, die wie etwa Treppenräume als Fluchtwege rauchfrei halten sollen. Inwieweit kann man z.B. in älteren Gebäuden mit technischem Brandschutz Mängel beim baulichen Brandschutz auffangen?

Sylvia Heilmann: Natürlich kann man einen Brand mit technischen Schutzmaßnahmen (wenn diese funktionsfähig sind) auch bekämpfen! Selbst ein Fassadenbrand kann mit einer Fassadensprinklerung im Zaum gehalten werden. Kommen aber brennbare Baustoffe zum Einsatz und ist dies kombiniert mit fehlenden Schottsystemen in Wänden und Decken, in Installationsschächten, in Türen, zu Treppen usw. und funktioniert auch die Sicherheitstechnik nicht oder fehlt gar, dann führt das zum Desaster! Also Kontrolle auch der alten und älteren Häuser ist Pflicht!

BS Brandschutz: Welche Möglichkeiten gibt es in Deutschland, auf Mängel im Brandschutz aufmerksam zu machen? In London scheinen die Bewohner ja auf taube Ohren gestoßen zu sein. Eine Situation, die das Ausmaß der Brandkatastrophe nochmal erweitert.

Sylvia Heilmann: Wir haben in Deutschland das präventive Schutzsystem – das sogenannte 4-Augen-Prinzip. Das heißt, die Prüfingenieure prüfen völlig unabhängig die Planung der Kollegen und kontrollieren deren Bauausführung. Dieses System deckt Sicherheitsdefizite im Vorhinein auf. Das ist die klassische Gefahrenabwehr! Die hat sich bewährt. Die Deregulierung, die wohl in Großbritannien weitestgehend durchgegriffen hat und auch die Sicherheit in Bauwerken umfasst, setzt dagegen auf ein repressives Schutzsystem. Dabei nimmt man den Schaden bewusst in Kauf und setzt auf Strafverfolgung im Nachhinein. Dieses System, so zeigt uns die Realität, kostet Menschenleben. Deshalb muss das in Deutschland vermieden werden.

BS Brandschutz: Frau Professor Heilmann, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.


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