Richtungsvariable Fluchtweglenkung

Die neue Anwendungsnorm DIN 14036 schafft Planungssicherheit

Dynamische Fluchtweglenkungssysteme verkürzen die Selbstrettungszeit bei der Evakuierung von Gebäuden. Damit können bauaufsichtliche Anforderungen kompensiert werden, die nicht realisierbar oder unwirtschaftlich sind. Die kürzlich erschienene Anwendungsnorm DIN 14036 erleichtert die Planung und Genehmigung von Dynamischen Fluchtwegsystemen erheblich. Die Norm gibt auch einen Ausblick auf eine zukünftige Adaptive Fluchtweglenkung.

Dynamische und Adaptive Sicherheitsleitsysteme sperren im Brandfall gefährdete Bereiche und leiten aus ihnen heraus bzw. um sie herum.
Bild: Inotec
Dynamische und Adaptive Sicherheitsleitsysteme sperren im Brandfall gefährdete Bereiche und leiten aus ihnen heraus bzw. um sie herum.
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Für die Flucht aus einem brennenden Gebäude ohne fremde Hilfe bleibt oft nicht viel Zeit. Im Regelfall stehen nur zehn Minuten zur Verfügung – aus Bereichen in der Nähe des Brandherdes oft nur zwei bis drei Minuten. An Flucht- und Rettungswege werden daher bauaufsichtlich hohe Anforderungen gestellt, wie z. B. maximale Rettungsweglängen, das Freihalten von Brandlasten und das Vorhandensein eines zweiten Rettungsweges.

Fluchtwegkennzeichnung

Die Beleuchtung und Kennzeichnung von Fluchtwegen hat deshalb für die Flüchtenden eine wichtige Funktion. Gemäß den Vorschriften für die Not- und Sicherheitsbeleuchtung werden hierfür Sicherheitsleuchten sowie Fluchtwegkennzeichen installiert. Sie sollen eine sichere Orientierung ermöglichen, um den Gefahrenbereich möglichst schnell und selbstständig verlassen zu können. Dabei wird im ganzen Gebäude genau ein Fluchtweg mit unveränderlichen Richtungszeichen festgelegt. Die Bauaufsicht geht davon aus, dass der kürzeste Fluchtweg maßgebend ist und im Gefahrenfall begehbar bleibt. Im Brandfall ist dies jedoch nicht immer so. Sind Teile des Fluchtweges durch Feuer oder Rauch unpassierbar, werden Flüchtende unter Umständen direkt in Gefahrenbereiche geführt. Zudem besteht die Gefahr von Stauungen mit nachfolgender Panik.

Dynamische Fluchtweglenkung

Dynamische Rettungszeichenleuchten sind ein wichtiger Bestandteil von dynamischen Sicherheitsleitsystemen . Sie zeigen den sicheren Weg aus dem Gebäude an.
Bild: Inotec

Dynamische Rettungszeichenleuchten sind ein wichtiger Bestandteil von dynamischen Sicherheitsleitsystemen . Sie zeigen den sicheren Weg aus dem Gebäude an.
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Eine unterschiedliche Signalisierung von Fluchtwegen unterstützt die barrierefreie Selbstrettung.
Bild: Inotec
Eine unterschiedliche Signalisierung von Fluchtwegen unterstützt die barrierefreie Selbstrettung.
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Dynamische Fluchtweglenkungssysteme (DFWL) erhöhen die Sicherheit im Brand- oder Gefahrenfall erheblich. Sie werden mit einer Brandmeldeanlage (BMA) gekoppelt und erhalten so Informationen über den Brandort. Die Ansteuerung der dynamischen Fluchtwegkennzeichen erfolgt durch Programmierung der möglichen Brandszenarien im zentralen Steuerteil der Sicherheitsbeleuchtung. Sobald ein Brandmelder anspricht, wird der betroffene Bereich durch die DFWL optisch gesperrt und von diesem weg- bzw. umgelenkt. Die Evakuierung aus dem Gefahrenbereich selbst erfolgt auf dem kürzesten Weg.

DFWL ermöglichen bei Aktivierung die einmalige Anpassung der Fluchtwegkennzeichnung an eine Gefahr und die Anzeige eines sicheren Fluchtweges. Ihr Einsatz ist besonders wirtschaftlich, wenn BMA und Sicherheitsbeleuchtung vorhanden oder bauaufsichtlich gefordert sind. DFWL sind seit vielen Jahren erfolgreich im Einsatz und werden häufig zur Kompensation bauaufsichtlich geforderter Maßnahmen eingesetzt, die nicht oder nur unwirtschaftlich zu erfüllen wären. Häufig können dadurch die Gesamtbaukosten deutlich reduziert werden.

Adaptive Fluchtweglenkung

Das Konzept der Adaptiven Fluchtweglenkung (AFWL) baut auf der DFWL auf und geht einen Schritt weiter. AFWL werden wie DFWL im Gefahrenfall aktiv und können je nach Gefahrenort unterschiedliche Fluchtrichtungen anzeigen. Im Gegensatz zu DFWL stellen sie sich jedoch nach ihrer Aktivierung auf die weitere Gefahrenentwicklung ein und passen die Fluchtrichtung während der Evakuierung flexibel an. Dazu müssen die Fluchtwege hinsichtlich ihrer Begehbarkeit überwacht werden. Hierzu können unterschiedliche Technologien wie Brandmelder, Fluchtwegmelder, Videokameras oder Gassensoren eingesetzt werden. AFWL sind bisher nur als Konzept entwickelt und noch nicht am Markt verfügbar.

Anwendungsnorm DIN 14036

Mit dem Erscheinen der Norm DIN 14036 „Dynamische und adaptive Fluchtweglenkung“ Ende 2023 steht den am Bau Beteiligten erstmals eine Anwendungsnorm für mehr Planungs- und Genehmigungssicherheit bei der richtungsvariablen Fluchtweglenkung zur Verfügung. Im normativen Teil wird die schutzzielorientierte Realisierung einer DFWL beschrieben und im informativen Anhang B werden ergänzende Hinweise zum Aufbau einer AFWL gegeben. Die DIN 14036 berücksichtigt in den Abschnitten 5 bis 10 alle Phasen der Realisierung einer DFWL von der Planung bis zur Instandhaltung. Zentraler Bestandteil ist das Fluchtweglenkungskonzept, das alle Anforderungen an die Fluchtweglenkung zusammenfasst und in dem Abweichungen von der Bauordnung dokumentiert und begründet werden. Richtungsvariable Fluchtwegleitsysteme können darüber hinaus die barrierefreie Selbstrettung unterstützen. So kann z. B. ein für Rollstuhlfahrer nutzbarer Fluchtweg gesondert gekennzeichnet werden. Die DIN 14036 geht an vielen Stellen explizit auf die barrierefreie Selbstrettung und das „Zwei-Sinne-Prinzip“ ein. Im Anhang C werden Hinweise zur Realisierung einer akustischen Fluchtweglenkung gegeben. Statische Rettungswegkennzeichen führen unter Umständen direkt in einen Gefahrenbereich.
Bild: Inotec

Statische Rettungswegkennzeichen führen unter Umständen direkt in einen Gefahrenbereich.
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Kompensation und Wirtschaftlichkeit

In der DIN 14036 wird ausdrücklich auf den Einsatz einer variablen Fluchtweglenkung als schutzzielorientierte Kompensationsmaßnahme und die Erhöhung der Wirtschaftlichkeit hingewiesen. Insbesondere bei Umbauten und Sanierungen im Bestand und in denkmalgeschützten Gebäuden sind nachträgliche bauliche Lösungen nach heutigem Standard oft nicht realisierbar – ebenso betrifft das auch Abweichungen nach Nutzungsänderungen, z.B. bei der Umwandlung von Wohnungen in Gewerbeeinheiten. In den Bauordnungen wird ausdrücklich auf die Einhaltung der (aktuellen) bauordnungsrechtlichen Schutzziele auch bei Nutzungsänderungen hingewiesen.

DFWL und zukünftig AFWL sind besonders geeignet, bauliche Maßnahmen im Zusammenhang mit Rettungswegen zu kompensieren, z.B. bei Rettungswegen mit Brandlasten oder überschrittenen Rettungsweglängen in historischen Gebäuden. Die DIN 14036 beschreibt im Anhang A mögliche Szenarien, in denen DFWL/AFWL zur Kompensation baurechtlicher Anforderungen beitragen können. Projektbeispiele für die dynamische Fluchtweglenkung sind in einem Leitfaden von Inotec Sicherheitstechnik ausführlich beschrieben, der unter www.inot.ec/leitfaden angefordert werden kann.

Auch bei Neubauten und moderneren Bestandsgebäuden lassen sich mit AFWL/DFWL Schutzziele wirtschaftlicher erreichen als mit den Standardvorgaben der Bauordnungen. Da diese Überlegungen nicht Gegenstand bauordnungsrechtlicher Anforderungen sind, müssen Betreiber und Fachplaner von sich aus aktiv werden und im Fluchtwegkonzept geeignete Maßnahmen beschreiben und Abweichungen von Bauordnungen oder anderen Regelwerken begründen. Eine frühzeitige Abstimmung mit den Genehmigungsbehörden und anderen Beteiligten, wie z. B. dem Sachversicherer, wird empfohlen.

Fazit und Ausblick

AFWL/DFWL ermöglichen eine sichere und wirtschaftliche Evakuierung von Gebäuden. Die neu erschienene Anwendungsnorm DIN 14036 wird die Realisierung solcher Systeme beschleunigen, da sie allen am Bau Beteiligten die notwendige Planungs- und Genehmigungssicherheit gibt. Bereits erschienen ist die Vornorm DIN VDE V 0108-200, die Mindestanforderungen an elektrisch betriebene optische Sicherheitsleitsysteme beschreibt. Der Anwendungsbereich der lichttechnischen DIN EN 1838 wird um optische Sicherheitsleitsysteme erweitert. Die überarbeitete Fassung wird voraussichtlich im 4. Quartal 2024 erscheinen. Der Entwurf der Technischen Spezifikation TS 17951 legt die Anforderungen an Adaptive Notbeleuchtungssysteme fest, die mit anderen Steuerungs- und Kontrollsystemen interagieren können. Auch hier wird mit einer Veröffentlichung im 4. Quartal 2024 gerechnet.

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